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Die Seestadt - eine Nachdenkpause nach erreichter Halbzeit

  • Montag, 27. März 2023 @ 12:59
Seestadt Aspern
Ein (später) Rückblick von Hilde Grammel auf eine Veranstaltung im Sommer vorigen Jahres

Die Seestadt ist zur Hälfte gebaut und besiedelt. 12.000 Menschen wohnen dort, wenngleich die Anzahl der Arbeitsplätze noch nachhinkt, ein guter Zeitpunkt zum Innehalten und das bisher Realisierte einem kritischen Blick zu unterziehen. So geschehen vor nicht ganz einem Jahr, als in der Kulturgarage ein hochkarätiges Podium unter Leitung von Wojciech Czaja, Architekturjournalist des Standard, darüber diskutierte, ob die Stadt im Allgemeinen, und die Seestadt im Besonderen, einen Beitrag zur Entschärfung der Klimakrise zu leisten imstande sei.

Vorkehrungen dafür wurden in der Seestadt ja nicht wenige getroffen: Mobilitätskonzept mit nur 20% motorisiertem Individualverkehr, Nutzungsmix aus Leben, Wohnen, Freizeit und Bildung, Ressourcenschonung bei Baustoffen und Bodenverbrauch, ein hoher Grünraumanteil bestehend aus Parks, Grünflächen in den Wohnanlagen und See, smarte Technologien.

Was ist nötig, um eine Stadt nachhaltig zu gestalten?

Dazu gehören, so die Stadtplanerin Helga Fassbinder, Gründerin der Stiftung Biotope City, ein Hineinexpandieren von Natur in die Stadt, was z.B. über Dachgärten, Fassadenbegrünungen und Parks geschehen kann, sodass die BewohnerInnen auch ihre Freizeit hier verbringen möchten; es braucht ein Angebot an Kultur, Einkaufsmöglichkeiten, Gastrobetrieben, grundsätzlich: eine Diversität im Rahmen eines Dorfes in der Stadt, damit die Stadt nicht nur für Eltern von Kleinkindern attraktiv ist und der Wegzug beginnt, sobald die Kinder außer Hauses sind. Es braucht architektonische Planung, die Flexibilität in Form von vorfabrizierten Bauteilen ermöglicht, damit nicht in wenigen Jahren ganze Gebäude wieder abgerissen werden müssen, sobald diese verschlissen sind.

Der Moderator schaffte es, und das ist durchaus bei Veranstaltungen dieser Art nicht üblich, das Publikum zu Wort kommen zu lassen und vom Podium Antworten auf dessen Fragen einzuholen.

Kritik, die von den BesucherInnen geäußert wurde, betraf u.a. die fehlende Gesprächsbereitschaft der Stadt Wien mit Bürgerinitiativen, das Ausbremsen der Entwicklung der Seestadt durch den verschleppten Öffi-Ausbau und das Beharren auf der Realisierung der Stadtstraße, bevor weitergebaut wird – mittlerweile schließen wieder Restaurants und Geschäfte –; die fehlende Radverbindung in die Innenstadt; generell eine künstlich geschaffene Abhängigkeit der BewohnerInnen vom Auto aufgrund fehlender Alternativen.

Die Aktivitäten von Bürgerinitiativen wurden naturgemäß unterschiedlich bewertet, saß doch mit Thomas Madreiter der Planungsdirektor der Stadt am Podium: Bürgerinitiativen seien ein Sprachrohr einer aktiven Gruppe, die ihre lokalen Interessen vertrete, während die Stadtentwicklung all jenen Gehör verschaffen müsse, die sich noch nicht organisiert haben. Helga Fassbinder wiederum wünschte sich Bürgerinitiativen, die Advokaten unserer Enkel sind und eine Stadtplanung, die sich dessen bewusst ist, dass wir nicht unseren ganzen agrarisch nutzbaren Boden verbauen können.

Über Öffis und deren Nachhaltigkeit

Interessant, dass Thomas Madreiter immer wieder auf die Vorbildlichkeit der Seestadt verwies, was die Ausgestaltung des öffentlichen Verkehrs anbelangt, vor allem, wenn man weiß, dass die U2 nur aufgrund nachdrücklich vorgebrachten Anrainerwunsches überhaupt gebaut wurde und die Stadtplanung diese ursprünglich gar nicht vorgesehen hatte. Mobilitätsverhalten, sprich: Autonutzung, sei etwas Erlerntes, was man den Menschen nicht so schnell abgewöhnen könne, genauso wenig wie man nicht ignorieren dürfe, dass der Pendlerverkehr für viele Menschen eine ökonomische Notwendigkeit darstelle. Geschäftsabwanderungen seien deshalb nicht ausschließlich darauf zurückzuführen, dass die Seestadt noch eine Unvollendete sei, sondern auch auf die allgemeine ökonomische Krisensituation und den dadurch ausgelösten Kaufkraftverlust der Bevölkerung.

Sigrid Stagl, Gründerin des Instituts für Ökologisches Wirtschaften an der WU-Wien scheute sich nicht, das Wort „Citymaut“ in den Mund zu nehmen, um Nachhaltigkeitsziele zu erreichen. In den Flächenbezirken gehörten am Wochenende die Intervalle der Öffis verdichtet. Die Stadtstraße sah sie insofern als Problem als einerseits ein Bekenntnis zu nachhaltiger Mobilität kommuniziert, andererseits Autobahnen ausgebaut werden. Zuerst seien die Strukturen in Richtung Nachhaltigkeit zu schaffen, um Nutzungsanreize überhaupt zu geben und den Menschen die Möglichkeit zu eröffnen, sich zwischen nachhaltigen und nicht-nachhaltigen Verhaltensoptionen zu entscheiden. Nur so werde man längerfristig den Abstand zwischen Werten – 90% der WienerInnen meinen schließlich, man brauche in Wien kein Auto – und Handeln – viele nutzen dennoch das Auto – zu verringern.

Der Geschäftsführer der Wien 3420 aspern Stadtteil-Entwicklungs-AG, Gerhard Schuster, seinerseits verwies darauf, dass man sich die Stadtstraße nicht gewünscht habe, es aber nicht möglich ist, die entsprechende UVP-Auflage einfach aus dem Bescheid hinauszureklamieren.

In der Schlussrunde meinte Sigrid Stagl, dass man der Bevölkerung Nachhaltigkeit nicht einfach ‚antun‘ könne, dass es vielmehr wichtig ist, mit den Menschen gemeinsam, in partizipativen Prozessen eine bessere Welt zu gestalten.

Für die angesprochenen gemeinsamen Prozesse von BewohnerInnen und Entscheidungsträgern bedarf es aber auch einer Transparenz über Investoren- und Baulobby-Interessen, die in Veranstaltungen dieser Art naturgemäß tabu sind. Oder ist es reiner Zufall, dass der Name Strabag auf den Baucontainern der Stadtstraße ebenso prangt wie auf jenen mehrerer Baustellen in der Seestadt?

Was mir gefallen hat, war dennoch die Zeit, die man sich genommen hat, um das Stadtentwicklungsgebiet Seestadt einer Reflexion zu unterziehen. Den vom Publikum vorgebrachten Kritikpunkten ist ebenso wie den angeführten Anregungen der ExpertInnen zuzustimmen.

Was mein persönlicher Eindruck als Bewohnerin der Seestadt ist?

Die Bemühungen sind groß, hier eine „Insel der Seligen“ – schließlich sind wir ja in Österreich – errichten zu wollen, im kapitalistischen Rahmen versteht sich und das heißt mit Geldinteressen dahinter, die im Detail niemand kennt. Die Überlegungen bezüglich Mobilität, Nutzungsmix, Grünraumerhaltung, Verdichtung statt Verbauung usw. sind grundsätzlich zu teilen. Doch sie sollten nicht beim Verlassen der Seestadt plötzlich vergessen werden.

Videomitschnitt von der Veranstaltung, hier klicken!