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"Nicht für die Schule, für das Leben lernen wir!"

  • Donnerstag, 31. August 2006 @ 21:10
von Karl Gugler-AHS-Lehrer

Da war einmal ein kleiner Bub. Das Dorf, in dem er aufwuchs, lag auf der Kuppe eines Hügels, Die Volksschule, in die er ging, stand auf dem Platz davor, keine 50 Meter neben dem Gotteshaus. Aber so ernst musste man das nicht nehmen. Der Klassenraum war muffig. Da saß er also mit 35 anderen seines Alters und lernte Schreiben, Lesen und Rechnen. Es war ganz lustig, weil er sich nicht besonders anstrengen musste, um das zu erlernen, was gefordert war. Der Kollege neben ihm, dem musste man einfach helfen bei jeder Gelegenheit, weil der sich sehr schwer tat. Aber gemeinsam waren sie unschlagbar. Die Zeit verging im Flug. Solange er nachmittags am Sandhaufen spielen, in den Wald gehen und geheime Unterstände bauen konnte oder abends, wenn die Mama die Kühe molk, mit ihr Lieder singen konnte, war die Schule eben Schule, aber sonst die Welt in Ordnung. Er sollte jetzt ins Gymnasium kommen. Die Eltern und die Lehrerin wollten es so. Es würde auch dort Kollegen geben, mit denen man allerlei Unfug anstellen konnte, dachte er bei sich - und so war es auch. Dass das, was die/der Frau/Herr Professor erzählten ihm interessant erscheinen sollte, hat erstens nie jemand in seiner Nähe behauptet und zweitens auch nie jemand ernsthaft eingefordert. Er konnte also weiter viel Blödsinn machen - der Blödsinn wurde nur von Zeit zu Zeit unterbrochen und zwar dann, wenn eine Schularbeit zu machen war. Seine ganze Umgebung signalisierte da unmissverständlich, dass bei solchen Gelegenheiten der Spaß zu Ende war. Einser, Zweier oder schlechtestenfalls Dreier sollten da als Ergebnis drunterstehen, keine Vierer und schon gar keine Fünfer. Und das war manchmal ein Problem. Aber zu Hause sich noch einmal die Schulhefte herzunehmen, um etwas auswendig zu lernen, das erschien ihm doch zu langweilig und zu abwegig. Nachdem im Klassenraum immer vier Doppeltische abstandslos zusammengestellt waren, hatte er eine Idee, die die Kommunikation während der Schularbeiten erleichtern sollte. Unterhalb der Tischplatten montierte er jeweils ganz außen eine Umlenkrolle und spannte aus Spagat einen darüberlaufenden, reißfesten Seilzug. Darauf angebrachte Büroklammern sollten es ermöglichen, Notizzetteln vom einen zum anderen hin- und herzuschieben - für den Fall, dass jemand Fragen hätte. Das hat sich nur mäßig bewährt; die Kollegen beteiligten sich nicht im erforderlichen Ausmaß. Er hatte gelernt: "Verlass' dich nicht auf andere!" Manchmal sagte auch einer - oder war das bloß das Über-Ich - dass einem zu einem späteren Zeitpunkt, z. B. bei einer mündlichen Prüfung, dass Wissen dann fehlen könnte. Na ja, dachte er, vielleicht, vielleicht auch nicht.

Inzwischen hatte der Bub die fünfte Klasse mit Ach und Weh erreicht. Problemlöseverfahren Nummer drei hatte sich als universell einsetzbar herausgestellt. Die angesammelten Kenntnislücken wurden aber schon - wenn auch nur im seltenen Einzelfall - ruchbar. Ein, zwei Professorinnen hatten ihn bereits auf der Abschussliste. Das war nicht mehr lustig. Aber in der Mehrzahl der Fälle konnte er sich mit der Ziehharmonika-Technik helfen. Aus einem karierten Blatt schneide man einen 5 cm breiten Streifen ab, falte ihn jeden cm einmal hin und her und presse das Ganze - nachdem man die nachzuweisenden Kenntnisse da notiert hat - sehr fest zusammen. So gefaltet lässt sich das 5 mal 1 cm große Stück unter dem Uhrband verdeckt aufbewahren.

Über vielfältige Erfahrung hatte der Bub gelernt: "Schummeln hilft, aber es will gelernt sein und es bedeutet, Nervenstärke zu beweisen!" Wie aber sollte er gegen die zwei Racheengel verfahren? Nun, der Zufall wollte es, dass Engel Nummer 1 regelmäßig die gleiche Bahnlinie benutzte, wie er selber. Die Dame war nicht sehr beliebt. Als Schüler schlug man einen Bogen um sie; alt und ein bisschen zittrig war sie auch. Und als junger Mann ziemt es sich doch, als Gentleman zuvorkommend zu sein. Man hievt also die schwere Schultasche der Frau Professor auf den Platz im Zugabteil; man hört zu, wenn sie was aus ihrem Leben erzählt und belästigt eine alte Dame nicht mit neumodischen Meinungen, die sie nicht verstehen kann. Er hatte schon wieder dazugelernt: "Helden sterben einsam. Opportunisten bleiben übrig!"

Blieb nur noch Racheengel Nummer 2. Jung, attraktiv, schrill manchmal - und gefährlich. Deutsch und Englisch. Alle drei Wochen eine Erörterung als Hausübung. Das war die Hölle für ihn. Er schlug einen Bogen um seinen Schreibtisch. Mama redete ihm ins Gewissen, brachte Tee oder Kaffee, ermutigte ihn. Vier oder fünf Stunden lang quetschte er einen, zwei, drei Absätze heraus, verwarf wieder alles, begann anders, freute sich, fast unter Tränen, als es vorbei war. Einige Tage später: Showdown! Racheengel 2 nahm in der Deutschstunde sein Elaborat zur Hand und zitierte einen Satz nach dem anderen, um dem Rest der Klasse vorzuführen, wie man das Thema ganz sicher nicht behandeln dürfte. Besonders weh tat das Mitlachen mancher Mitschüler. Er lernte dabei, zu welcher Dimension an Grausamkeit Erwachsene fähig sind.

Am Ende waren alle sechs Schularbeiten mit Fünfern benotet; die große finale Entscheidungsprüfung war angesagt und so vertiefte er sich in die Literaturkundemappe. Gleichzeitig mit ihm trat noch eine weitere Delinquentin an. An sie wurde die erste Frage gerichtet. Und das heftige Herzklopfen schwächte sich ab, als er den Wortlaut hörte und zugleich registrierte, dass seine Mitschülerin die Antwort nicht geben konnte, während er selbst sie wusste. Er hätte ihr etwas zuflüstern können, tat es - richtig kalkulierend - aber nicht mehr. Der Engel braucht ein Opfer, schoss ihm durch den Kopf.

Er hat die Schlacht gewonnen. Die Gescheiterte ist heute Sekretärin, der Bub Professor. Er hatte gelernt, dass man in diesem Schulsystem - vornehm gesagt - rücksichtslos werden muss.